Pharmastandort Deutschland

Zurück an die Spitze

Deutschland galt einst als Apotheke der Welt. Heute sind rund 400 Medikamente und Wirkstoffe nicht lieferbar. Die Forschung zur Zell- und Gentherapie spielt sich zu einem großen Teil in China und den USA ab. Geopolitische Umbrüche, Engpässe und Krisen bedrohen den Pharmastandort Deutschland von außen, unausgegorene Regelungen und Bürokratie von innen. Um die Gesundheitsindustrie zukunftsfähig zu gestalten und starker Biotechnologiestandort zu werden, braucht es einen ganzheitlichen Ansatz.

Podiumsdiskussion zu "Gesunder Industriepolitik"

Michael Vassiliadis, IGBCE-Vorsitzender (von links); Gabriele Katzmarek, Bundestagsabgeordnete  und Schirmherrin der Veranstaltungsreihe; Dr. Daniel Steiners, Geschäftsführer Bayer Vital GmbH; Heinrich Moisa, Vorsitzender der Geschäftsführung, Novartis Deutschland

Foto: © Alexander Ciupka

Über einen solchen Ansatz sprachen Vertreter*innen aus Politik, Wirtschaft und der IGBCE in der Eröffnungsveranstaltung zur Vortragsreihe Gesunde Industriepolitik - Fortschrittsdialog. In insgesamt acht Veranstaltungen sollen bis Herbst wegweisende Impulse gesetzt werden. Im Mittelpunkt steht ein Austausch über gute Arbeitsplätze, die Schaffung von Investitions- und Planungssicherheit, Anreizen für Forschung und Entwicklung sowie Produktion in Deutschland. Denn, und darin waren sich alle Teilnehmenden der Auftaktveranstaltung einig: 2023 ist das Jahr der Entscheidungen.

„Die Industriepolitik steht unter Druck, Rahmenbedingungen haben sich geändert. Was uns 15, 20 Jahre erfolgreich gemacht hat, wackelt“, so Michael Vassiliadis. Deutschland habe großes Potenzial für innovative Therapien und gute Versorgung bei Krankheiten, für Wertschöpfung, gute Arbeitsplätze – Potenzial, die Zukunftsbranche richtig stark zu machen: „Sie ist nicht bloß Kostenfaktor und Problem, sondern Lieferant für Lösungen auf Fragen, die noch offen sind.“ Allerdings brauche sie eine andere Umgebung.

Problematisch sei da zum einen das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz. Die im Oktober 2022 beschlossene Finanzreform der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) habe, so bestätigt Manfred Heinzer, Vice President & General Manager, Amgen GmbH, zu „signifikanten Investitionskürzungen geführt und den Standort Europas sehr verschlechtert“. Vassiliadis regte in diesem Zusammenhang neue Rahmensetzungen und eine intensive Debatte über die Finanzierung an - grundsätzlich sollten außerdem „die Aspekte der Versorgungssicherheit in Zukunft bei Ausschreibungen stärker berücksichtigt werden“, forderte er. Eine strategische europäische Arzneimittelreserve müsse etabliert und die europäische Produktion bei versorgungskritischen Wirkstoffen gewährleistet sein. Außerdem sei die Vergütung von Generika neu zu bewerten.

Ein weiteres großes Thema war der Bürokratieabbau. Er soll die Bedingungen am Standort „besser, schneller und stärker“ machen und ein „neues Deutschland-Tempo“ etablieren, erklärte die SPD-Bundestagsabgeordnete Gabriele Katzmarek, Schirmherrin der Veranstaltungsreihe. „Das kann auch ganz schnell zur Deutschlandbremse werden“, warnte Dr. Hagen Pfundner, Vorstand, Roche Pharma AG. Er kritisierte den „überbordenden Bürokratiewahn“ als Forschungshemmnis. Auch in Sachen Datenschutz: Datensicherheit sei gut, zu viel Datenschutz verhindere Fortschritt. „95 Prozent der Forschung zur Zell- und Gentherapie spielen sich in den USA und China ab, das macht mir Sorgen. Wir haben den Zug verpasst“, fürchtet Pfundner.

Zuversichtlich gibt sich Dr. Daniel Steiners, Geschäftsführer Bayer Vital GmbH. „Unser Anspruch muss es sein, wieder die Apotheke der Welt zu werden und ganz vorne mitzuspielen – und das geht nur mit der IG BCE zusammen“, sagte er und warnt: „Großbritannien will im Bereich der Zell- und Gentherapie an die Spitze – wir brauchen eine europäische Strategie und eine unabhängigere Wertschöpfungskette.“

Hohe und risikoreiche Investitionen in Forschung und Entwicklung könnten nur unter sicheren Rahmenbedingungen getätigt werden: „Wir haben jetzt die Chance, international führender Standort für Biotechnologie zu werden. Aber alle Pharmaunternehmen weltweit machen sich auf diesen Weg“, so Heinzer. Heinrich Moisa, Vorsitzender der Geschäftsführung, Novartis Deutschland, sieht die Gesundheitspolitik als Wirtschafts- und Wohlstandspolitik – energiearm, umweltfreundlich, wissensstark.

„Wir müssen ein neues Gebilde für die Industriepolitik schaffen, um hochwertige, krisenfeste und zukunftsfähige Arbeitsplätze zu erhalten“, so Vassiliadis. „Es ist entscheidend, dass wir einen breiten Austausch zwischen Biotech-Unternehmen, IGBCE und Politik in Gang bekommen. Die Zeit drängt.“

Weitere Informationen

Abfüllstation
Foto: © Bayer HealthCare AG
Chemie und Pharma
Stärkster Standort in Europa

Deutschland bleibt weiterhin einer der wichtigsten Chemiestandorte der Welt und der mit Abstand größte in Europa. Fast 330.000 Menschen arbeiten hierzulande in über 1.000 Betrieben in der Chemieindustrie. In der deutschen Pharmaindustrie, dank ihrer Innovationskraft und Wertschöpfung ebenfalls ein zentrales Standbein der deutschen Wirtschaft, sind mehr als 110.000 Menschen beschäftigt. 

Curevac Impfstoffproduktion
Foto: © Curevac
Chemie und Pharma
Erfolgreich auf den Zug aufgesprungen

Das Biotechunternehmen Curevac hat erstmals einen Betriebsrat. Wie der sich bisher aufgestellt hat, berichtet dessen Vorsitzender Heiko Klever.

Michael Vassiliadis auf der Jahrespressekonferenz
Foto: © Kai-Uwe Knoth
Jahrespressekonferenz der IGBCE
Milliardenschweres Entlastungspaket für Tarifbeschäftigte

Zu Jahresbeginn öffnet sich ein milliardenschweres tarifliches Entlastungspaket für Hunderttausende Beschäftigte in den Branchen der IGBCE. Sowohl in der Chemie- als auch der Papierindustrie – aber auch in kleineren Tarifgruppen – greifen in diesen Tagen satte Entgelterhöhungen, die Deutschlands zweitgrößte Industriegewerkschaft durchgesetzt hat.