1891–1900

Prägende Jahre – erste Erfolge

Reichskanzler Otto von Bismarck geht von Bord. Seine Sozialgesetzgebung ist nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein: Die karge Altersrente wird erst ab dem 70. Lebensjahr ausgezahlt. In den 1890er-Jahren zählt Deutschland 20 Millionen Arbeiter und die Gewerkschaften verzeichnen ihre ersten politischen und sozialen Erfolge.

Frauen leisteten Ende des 19. Jahrhunderts oft Schwerstarbeit

Frauenarbeit Ende des 19. Jahrhunderts

Foto: © IG BCE Archiv

Das Ende des Sozialistengesetzes 1890 zeigt Folgen: Die Mitgliedszahlen der Gewerkschaften und der SPD steigen sprunghaft an – 1891 zählen alle freien Gewerkschaften gerade einmal 270.000 Mitglieder, am Vorabend des Ersten Weltkriegs im Sommer 1914 sind es bereits 2,5 Millionen organisierte Arbeiterinnen und Arbeiter. Das ist eine enorme Entwicklung in der Geschichte der Arbeiterbewegung. Die Gewerkschaften im deutschen Kaiserreich sind zunächst Facharbeiter- und Handwerker-Organisationen, die Un- und Angelernten bleiben außen vor. Doch in neuen Branchen wie der Chemieindustrie arbeiten 80 Prozent der Beschäftigten ohne Berufsausbildung. Diese Lücke schließt der Fabrikarbeiterverband, der 1890 in Hannover gegründet wurde. Er wendet sich in seinen ersten Jahren gezielt an die Gruppe der Hilfsarbeiter.

Nachtarbeit für Frauen wird verboten

Eine andere Gruppe, um die sich in dieser Zeit zunächst niemand kümmert, bilden die rund 5,5 Millionen berufstätigen Frauen. Sie leisten Ende des 19. Jahrhunderts oftmals Schwerstarbeit, ohne Arbeitszeitbegrenzung, und bekommen nur 50 bis 65 Prozent des Lohnes ihrer männlichen Kollegen. Der Fabrikarbeiterverband geht als erste deutsche Gewerkschaft deswegen in die Offensive: Auf seinem Verbandstag im August 1892 in Braunschweig ergänzt er seinen Namen und nennt sich fortan „Verband der Fabrik-, Land- und gewerblichen Hilfsarbeiter und Arbeiterinnen Deutschlands“. Das ist Ende des 19. Jahrhunderts schon fast eine Revolution für die von Männern dominierte Arbeiterschaft. Zeitgleich zeichnen sich erste politische und soziale Erfolge für die Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung ab, die ohne den Druck „von unten“ nicht zustande gekommen wären: Ein Gesetz regelt seit 1891 die Sonntagsruhe, die Höchstarbeitszeit wird für Jugendliche auf zehn und für Frauen auf elf Stunden am Tag festgelegt. Nachtarbeit wird für beide Gruppen verboten, Kinderarbeit unter 13 Jahren untersagt. Bedeutsame Regelungen, die auf die hartnäckigen Forderungen der Arbeiterbewegung zurückzuführen sind. Trotzdem werden diese sozialen und politischen Errungenschaften ständig von Unternehmen und Behörden unterlaufen.

Antistreikgesetz wird abgelehnt

Kaiser Wilhelm II. fürchtet Ende des 19. Jahrhunderts den wachsenden politischen Einfluss der Arbeiterbewegung und der Sozialdemokratie. 1890 ist die SPD erstmals stärkste Partei im Reichstag. Die kaiserliche Regierung weigert sich allerdings, mit den Vertretern der Sozialdemokratie zu sprechen, der Monarch warnt sogar vor den „Parteien des Umsturzes“ und ruft zum Kampf für Religion, Sitte und Ordnung auf, weil er eine Revolution befürchtet. Er fordert, all diejenigen mit Zuchthaus zu bestrafen, die Arbeitswillige – sprich Streikbrecher – an der Arbeit hindern würden. Heftige Proteste und politische Kundgebungen führen 1899 schließlich dazu, dass das geplante Antistreikgesetz im Parlament abgelehnt wird. Es ist ein glatter Punktsieg in dieser Zeit für die Arbeiterbewegung – und die Entwicklung der Gewerkschaften zu einer Massenorganisation der Arbeiter ist nicht mehr aufzuhalten.

1901–1910: für Wahrheit und Recht